Guckt mal und lest mal! Jetzt geht es los, denn es ist der 30. November abends und die Geschichte beginnt.
1. Dezember 2025
„Bitte hier entlang! Hier entlang!“, rief eine energische, doch sympathische Stimme. Aufblitzende Pfeile an den Wänden und auf dem Boden zeigten die Richtung. Trappelnde Schritte kamen näher.
„Bitte hier entlang! Direkt zum Wartezimmer. Bitte nehmen Sie dort Platz und schauen Sie auf die Anzeigetafel. Wenn Ihre Nummer erscheint, treten Sie bitte ins Beratungszimmer ein.“
Die Stimme wurde leiser, doch sie wiederholte alles noch mehrere Male.
Das Trappeln kam näher und man konnte deutlich ein murmelndes Stimmengewirr hören.
2. Dezember
„Was heißt hier Wartezimmer!“, rief jemand entrüstet. „Ich habe einen Termin um 8:00 Uhr und brauche nicht zu warten!“
„Pah! Dann komme ich vor Ihnen dran. 7:50 Uhr!“
„Bei mir steht ‚Erster!‘, also bin ich zuerst im Beratungszimmer!“
„Ich brauche überhaupt keine Beratung!“, hörte man eine tiefe Stimme. „Es geht dieses Jahr um mich! Was ihr hier alle wollt, verstehe ich sowieso nicht. Ich bin angerufen worden und persönlich eingeladen.“
„Ich auch!“, hörte man mehrere Stimmen, deren Besitzer noch immer hinter der Ecke verborgen blieben.
3. Dezember
Doch schon kam jemand ins Wartezimmer gestürmt und riss die Tür des Beratungszimmers auf. Merkwürdig sah er aus, schlank, ein wenig zerrupft, mit roten Lippen und einer steilen Falte auf der Stirn.
Kaum war jedoch diese Tür einen Spalt breit offen, rannte jemand an ihm vorbei, größer als er, mit düsterem Blick und war vor ihm drin. So standen beide plötzlich dort, wo sie schon erwartet wurden, im Beratungszimmer.


4. Dezember

„Herzlich willkommen! Wir freuen uns, Sie als erste begrüßen zu dürfen. Ich darf mich gleich mal vorstellen: mein Name ist Pinsel, Herr Pinsel. Neben mir stehen die liebenswürdige Frau Tuschkasten und der immer fröhliche Herr Kleber.“
Die beiden Neuankömmlinge blieben verdutzt stehen. So höflich waren sie noch nie begrüßt worden. Vor Schreck brachte keiner von ihnen ein Wort heraus.
„Nun, nun, nicht so schüchtern!“, ermunterte Herr Pinsel die beiden. „Am besten stellen Sie sich erstmal vor.“
5. Dezember
„Ich bin …“ „Ich heiße …“, ging es gleichzeitig los. „Ich habe …“, „Ich wollte …“
„Schon gut, schon gut. Am besten einer nach dem anderen.“, schlug Frau Tuschkasten vor und ihre Stimme war so lieblich und angenehm, dass die Besucher sogar ein wenig lächelten. Sie nickte dem kleinen Zerrupften auffordernd zu.
„I-i-ich habe die Anzeige gesehen. Man kann hier seine Geschichte erzählen, stand da. Und … also, ich heiße Ef-Ha, und soweit ich weiß hatte ich mal einen Bruder. Mein Zustand ist nicht so gut und ich dachte, … vielleicht können Sie mir helfen.“
Nun hielt Herrn Kleber nichts mehr zurück. Er hatte viel zu lange nur zugehört.
„Ef-Ha – also
Efraim Haselnuss, nehme ich an,
der mit seinen Fingern sicher ganz toll schnipsen kann,
bestimmt ist dein Bruder nicht weit von hier versteckt
und wird ruckzuck von uns entdeckt!“
6. Dezember
Frau Tuschkasten lächelte fröhlich, Herr Pinsel jedoch räusperte sich etwas ungehalten. Dieser Kleber konnte doch nicht anders! Immer diese Scherze!
„Herr Kleber, so schnell wird das nicht gehen. Dafür wissen wir noch viel zu wenig. Bevor Sie, sehr verehrter Herr Ef-Ha mehr von sich erzählen, möchte ich gerne Ihnen das Wort erteilen.“
Er wandte sich an den anderen Besucher.
Da trat der Große mit dem düsteren Blick ein wenig vor und sagte mit tiefer Stimme:
„Pe-Em mein Name, mein Zustand ist mangelhaft. Das ist kein Wunder. Mir fehlen frische Luft, Sonnenschein und kalte Winde. Ich bin Einzelkind und daran gewöhnt, mit mir selber zurecht zu kommen. Doch so ganz ohne Hilfe geht es nicht weiter. Deswegen bin ich hier.“
Wieder ließ sich Herr Kleber hören:
7. Dezember
„Hallo, lieber Herr Putzelchen Emmerang,
Das ist ein Name mit lustigem Klang.
Hier sind Sie richtig, hier ist es fein,
Wir sorgen für Frohsinn und Sonnenschein.“
Frau Tuschkasten war begeistert, doch wieder bremste Herr Pinsel das muntere Treiben.
Er sagte: „Lieber Herr Ef-Ha und lieber Herr Pe-Em, zunächst einmal brauchen wir genaue Angaben über Ihren Wohnort, Ihre bisherigen Aufgaben und über die Menschen, mit denen Sie verbunden waren. Wer möchte beginnen?“
„Ich“, sagten beide. Wieder war es die liebliche Stimme von Frau Tuschkasten, die Ordnung in das Durcheinander brachte.
„Vielleicht beginnen wir mit Ihnen, lieber Herr Ef-Ha und Sie, lieber Herr Pe-Em können noch etwas ausruhen und sich sammeln.“
8. Dezember
„Ich wohne in der Max-und-Moritz-Straße 2a“, begann Herr Ef-Ha und schon rief Herr Pe-Em „Ich doch auch!“
Herr Pinsel guckte ernst in seine Richtung und Frau Tuschkasten machte: „Sch, sch, nur ruhig. Sie sind gleich dran.“
„Ich war sehr zufrieden und lebte mit meinem Bruder in einer Schublade“, fuhr Herr Ef-Ha fort. „Ich doch auch!“, rief der andere noch etwas lauter.
Herr Kleber begann zu kichern.
„Sobald es kalt wurde, holte man uns daraus“, …
„Mich auch! Immer, wenn es kalt wurde!“
„Dann begann unser wahres Leben. Hände zogen uns über und wir hatten Bewegung.“
„Ja, frische Luft und gute Sicht! …“ seufzte Herr Pe-Em und schaute den zerrupften Herrn Ef-Ha voller Verständnis und Mitgefühl an.
Man konnte meinen, sie lächelten beide ein wenig.

9. Dezember
Das gefiel Herrn Kleber. Er mochte keine schlechte Stimmung und Lächeln war ein guter Anfang.
„Wie es scheint, so ist man froh,
kam aus einer Schublade sowieso,
war auch noch im selben Haus,
doch die Geschichte ist nicht aus!
Hören wir gespannt nun zu
Drum sagt doch zueinander DU.“
„Fahren Sie beide ruhig fort. Wir hören zu.“, ermunterte Herr Pinsel und ignorierte Herrn Klebers Reim vollständig.
„Nun, wie gesagt, es ging uns gut und dir doch auch. Wir können doch ruhig DU zueinander sagen“, schlug der Herr Ef-Ha schüchtern und sehr leise vor.
„Selbstverständlich. Jetzt, wo du von der Schublade erzählst, glaube ich sogar, dass wir uns schon früher unterhalten haben. Ich habe dich aber nicht erkannt.“
„Kein Wunder, wie ich aussehe! Und ehrlichgesagt, habe ich dich auch nicht erkannt. Trugst du nicht früher so eine schöne runde rote Bommel?“
„Oh ja! Erinnere mich bloß nicht daran, dann kommen mir die Tränen. Schau nur, wie abgerissen ich hier untenrum bin! Aber du hast auch gelitten!“
Nun wollten beide weiter jammern und ihr Schicksal beklagen.
Doch das war den drei Beratern zu viel.
10. Dezember
„Schluss damit!“, sagte Herr Pinsel sehr bestimmt. „Es gibt im Leben immer mal schlechte Zeiten. Lassen Sie die hinter sich und schauen Sie nach vorne!“
„Doch erzählen Sie nun weiter, wieso Sie so zerrupft und mitgenommen aussehen!“, forderte Frau Tuschkasten die beiden mit ihrer lieblichen Stimme auf.
Herr Pe-Em und Herr Ef-Ha sahen sich an und begannen im Wechsel zu erzählen.
„Erst war alles gut. Der Sommer war vorüber und wir hatten ausreichend in unserer Schublade geschlafen.“
„Es wurde draußen kälter, aber wir wurden nicht herausgenommen.“
„Immer wieder hörten wir schon morgens diesen Streitereien zu. Eine Stimme sagte: ‚Nimm die Mütze! Zieh die Handschuhe an! Draußen ist es kalt!‘
Die andere Stimme antwortete: ‚Mir ist nicht kalt. Keiner trägt eine Mütze. Ich brauche keine Handschuhe. Die stören nur beim Schreiben!‘
„Ja, das wunderte mich und meinen Bruder besonders. Mit uns war noch niemals geschrieben worden, aber das machten die Kinder doch auch nicht auf dem Schulweg, sondern im Klassenzimmer und da war es doch warm.“
11. Dezember
„Aber dann wurde es noch schlimmer. Nicht mal am Nachmittag, wenn es draußen schneite und alles so schön war, wurden wir herausgeholt.“
Die eine Stimme sagte: ‚Geh raus! Du brauchst frische Luft und Bewegung!‘ Und ich rief in meiner Schublade so laut ich konnte: ‚Ja, stimmt! Ich auch! Ich auch!‘
Aber nichts geschah.“
„Mein Bruder und ich hörten sogar wie die andere Stimme sagte: ‚Was soll ich draußen? Da ist niemand! Die sind alle an der Leine.‘ – oder so ähnlich. Wir haben uns gefragt, was das wohl ist.“
„Das habe ich auch gehört. Ich hätte das gerne mal gesehen. Aber es klang mehr nach onleine.“
„Stimmt!“
12. Dezember
„Oder ohne Leine!“, fügte er noch hinzu.
Herr Kleber amüsierte sich und beendete die Rätselrunde.
„An der Leine geht der Hund
Trotzdem ist er ganz gesund
Doch Menschen, Eltern, Kinder
Folgen oft wie ein ganz Blinder
Den Bildern und dem Quatsch
Auf den Handys
und schon landen sie im Matsch.“
„Natürlich, das war der Grund, warum ihr nicht mehr rausgekommen seid.“, erklärte jetzt Herr Pinsel, der schon viel zu lange geschwiegen hatte und den lustigen Reim von Herrn Kleber einfach überhörte. Doch Frau Tuschkasten hatte er gefallen und sie zwinkerte Herrn Kleber vergnügt zu.